"Atomausstieg bis 2020, spätestens!"

Veröffentlicht am 07.04.2011 in Umwelt

Matthias Platzeck im Super-Illu-Interview vom 7. April 2011

Wie haben Sie die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren wahrgenommen?

Ich habe das über's Westfernsehen verfolgt, wie wir alle. Bei uns gab es ja allenfalls verharmlosende Propaganda. Als Sportfan hat mich betroffen gemacht, dass die Friedensfahrt nur zwei Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Kiew aus gestartet ist. Alle Ostblock-Mannschaften mussten dabei sein, alle westlichen Radrenner mit Ausnahme der Franzosen hatten abgesagt. Für mich war Tschernobyl der Einschnitt, der mich zu der Erkenntnis gebracht hat, dass die Atomkraft eine nicht verantwortbare Form der Energiegewinnung ist.

Warum ist Atomkraft für Sie nicht verantwortbar?

Abgesehen von Naturgewalten, wie sie jetzt in Japan die Reaktorkatastrophe ausgelöst haben: Solange Ingenieure, die die hochkomplexen Anlagen überwachen, Menschen mit allen ihren Schwächen sind, bleibt ein Grundrisiko, das in der Betriebsführung liegt. Zweitens: Die Endlagerfrage ist weltweit ungeklärt. Wir produzieren eine Altlast, die wir sehenden Auges nachfolgenden Generationen als unverantwortbares Problem hinterlassen.
Drittens: Wie keine andere Energieerzeugungsart setzt Atomkraft ein geordnetes Staatswesen und ein funktionierendes staatliches Gewaltmonopol voraus. Wir erleben aber in den letzten Jahrzehnten immer häufiger, dass Staaten zerbrechen, Regionen instabil werden, Terrorgefahr zunimmt.

Fukushima 2011 – bisher hieß es von Fachleuten, das sei nicht vergleichbar mit Tschernobyl. Ist diese Relativierung wirklich berechtigt?

Was mich auf jeden Fall an Tschernobyl erinnert, ist eine anscheinend der Atomindustrie, egal in welchem System, eigene Art und Weise, mit Störfällen umzugehen: Man neigt zum Kleinreden, zum Vorspiegeln der Beherrschbarkeit einer längst außer Kontrolle geratenen Lage.

Anfangs war das schwarz-gelbe Atommoratorium für Sie nur eine „Worthülse“. Nehmen Sie Merkel und Westerwelle die Ersthaftigkeit des Ausstiegswillens inzwischen ab?

Ich nehme der Bundesregierung vor allem immer noch übel, dass sie vor gut einem halben Jahr den gesellschaftlich sehr breit akzeptierten Ausstiegskompromiss von Rot-Grün aufgekündigt hat. Und das, obwohl alle kritischen Erkenntnisse, die heute ins Feld geführt werden, schon damals bekannt waren. Insofern nehme ich Ihnen die erneute Wende nicht so richtig ab. Aber weil ich ein positiv denkender Mensch bin, sage ich: Jeder Schritt Richtung Ausstieg ist gut, auch wenn er nicht aus besserer Einsicht erfolgt.

Was muss dabei rauskommen – eine Rückkehr zum rot-grünen Ausstiegsmodell?

Wir sollten den rot-grünen Kompromiss als Basis für Verhandlungen nehmen, aber den Ehrgeiz haben, den Ausstieg noch zwei, drei, vier oder fünf Jahre vorzuziehen. Seriöse Experten rechnen uns vor, dass das möglich ist. Es wäre sehr wichtig, bei diesem Thema, das die Menschen berührt wie kaum ein anderes, wieder einen gesellschaftlichen Konsens
hinzubekommen, der über Parteigrenzen hinausreicht.

Das heißt: Bis 2020 soll der letzte Meiler vom Netz?

Spätestens. Jedes Jahr früher wäre besser. Aber wir müssen uns auch klar darüber werden, dass dies mit Anstrengungen verbunden ist. Es wäre ein sehr ehrgeiziges Ziel, bis 2030 die Hälfte unseres Bedarfs aus erneuerbaren Energien zu decken. Das heißt aber auch, dass wir noch längere Zeit fossile Energieträger als Brücke brauchen. Auch darüber bedarf es einer gesellschaftlichen Einigung, die ein paar Jahrzehnte trägt. Außerdem muss klar sein: Auch ein erhöhtes Tempo beim Ausbau erneuerbarer Energien braucht dauerhafte gesellschaftliche Kompromissfindung - und ich weiß, wovon ich rede. Als Bundesland, das bereits zum zweiten Mal als das erfolgreichste auf diesem Gebiet mit dem "Leitstern" des Bundes geehrt wurde, haben wir es schon jetzt massiv mit Akzeptanzproblemen in der Bevölkerung zu tun. Wer keine neuen Windräder mehr sehen will, wer sich gegen neue Stromtrassen wehrt, wer den Anbau von Biomasse zur Energiegewinnung ablehnt, der wird sagen müssen, wo der klimafreundliche Strom denn sonst herkommen soll. Unser Wohlstand basiert darauf, dass Deutschland ein erfolgreiches Industrieland ist. Damit das so bleibt, brauchen wir weiterhin eine sichere und bezahlbare Stromversorgung – auch wenn dies den einen oder anderen Bürger in seinem Umfeld direkt berührt. Nur zu sagen, was alles nicht geht, wird Deutschland nicht zukunftsfähig machen.

Sie werben für eine weitere Verstromung der Lausitzer Braunkohle. Aber die CCS-Technologie, die die Kohle klimafreundlicher machen sollen, stößt auf breite Ablehnung. Wird Brandenburg, wo CCS bereits erprobt wird, am Ende das alleinige CO-2-Endlager der Republik?

Die brandenburgische Landesregierung hat ganz klar gesagt: Wenn es ein CCS-Bundesgesetz geben sollte, das den geographisch dafür geeigneten Nordländern erlaubt, CCS grundsätzlich auszuschließen, macht es auch keinen Sinn, dass wir in Brandenburg diese Technologie weiter erproben. Denn in diesem Fall könnte sie ohnehin nie das Praxisstadium erreichen.
Unsere Lagerkapazitäten im Lande reichen jedenfalls maximal für den Bedarf einer Demonstrationsanlage in der Lausitz, aber nicht für eine Anwendung auf breiter Front.

Welche erneuerbaren Energien bergen Ihrer Meinung nach vielversprechende Potenziale, welche sind überschätzt?

Bei der Windkraft sind die Potenziale noch längst nicht ausgeschöpft. Die Zukunft liegt hier vor allem im Offshore-Bereich, wo der Wind stetiger und stärker weht als an Land. Und es gibt vielversprechende Ansätze, mit drachenartigen Konstruktionen in höheren Sphären Wind zu „ernten“. Wir werden noch große Sprünge im Wirkungsgrad bei der Sonnenenergienutzung erleben. Bei der Biomasse sind die Kapazitäten zwar noch nicht ausgeschöpft, aber die Grenzen relativ bald erreicht. Unabhängig von der Art des Energieträgers wird es eine große Herausforderung sein, die Energien aus erneuerbaren Quellen zu verstetigen, also grundlastfähig zu machen. Dafür brauchen wir Hybridkraftwerke. Ein Prototyp wird gerade bei uns in der Uckermark gebaut, in dem Strom aus Wind und Biomasse auch genutzt werden soll, um Wasserstoff als hochwertigen Energiespeicher zu erzeugen.

Zurück zum Atomausstieg. Die Kernkraftbetreiber werden sich sicherlich mit Händen und Füßen dagegen wehren und mit den Vermögensschäden argumentieren, die ihnen entstehen, RWE klagt ja jetzt schon gegen das Moratorium…

… und deshalb sollten wir den Stromkonzernen auch mal die ehrliche Gegenrechnung aufmachen, welche Kosten die angeblich so günstige Atomkraft unserer Gesellschaft tatsächlich aufbürdet – von den Polizeieinsätzen für die Castor-Transporte bis hin zur Endlagerung radioaktiven Mülls.

 

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